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Tag 8: Lost Place – das Freisebad Görlitz

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Es ist kurz nach Zwölf in der ehemaligen Wasserheil-und Badeanstalt von Walter Freise aus dem Jahr 1887. Die Uhr der großen Schwimmhalle ist stehen geblieben. Von den Wänden blättert der Putz, im Kassenhäuschen liegt ein schreibmaschinengeschriebener Zettel von 1965, in den alten Holzschränken der Umkleiden rosten Drahtkleiderbügel, Spinnweben hängen wie Fäden von den Decken. Das große Schwimmbecken liegt leer vor uns.

Geschlossen am 31. März 1996 und der Letzte hat gefühlt alles stehen und liegen gelassen und nur noch das Licht ausgemacht. Dieses altehrwürdige Bad hat definitiv schon bessere Zeiten gesehen,  und dennoch steht es würdevoll da. Alte Holztreppen knarzen, fahles Licht fällt durch die milchigen Scheiben, aber die Aura des Hauses ist überwältigend. Hier steht ein Stück Görlitzer Geschichte. 

Der Grundriss im Innern ist verwinkelt und geradezu eigensinnig. Enge, kurze Gänge führen in den Nebentrakt zum zweiten ehemaligen Becken. Hier wurden einige Szenen für das Grand Budapest Hotel gedreht. „Da wurde extra eine Badewanne hin gebaut“ sagt Kerstin Gosewisch, Filmbeauftragte der Stadt Görlitz und zeigt in eine Ecke.  Ich versuche mir Jude Law mit Badekappe in der Badewanne sitzend, vorzustellen. Für eine Szene von wenigen Sekunden, wurde genau einen Tag lang gedreht.

Kerstin Gosewisch erinnert sich gerne an jenen Winter 2013. Bill Murray beim Bratwurst essen auf dem Obermarkt, Owen Wilson, der spätabends sein Hotel nicht mehr findet, Regisseur Wes Anderson, der im Vorbeigehen mit der Kreditkarte ein ganzes Jugendstil Schlafzimmer kauft und in die USA verschiffen lässt. Die Görlitzer seien unaufgeregt und unaufdringlich mit den Stars umgegangen, das habe den Paparazzi-geschädigten Hollywood-Granden natürlich gefallen, schwärmt Kerstin. 

„Und im Café Flüsterbogen auf dem Untermarkt stand man jeden Abend Schulter an Schulter mit Jeff Goldblum & Co. Draußen war es bitterkalt, im kleinen Café konnte man die Luft in Scheiben schneiden, aber die Partys waren legendär“, raunt mir ENO-Redakteur Chris zu. Mein Grinsen im Gesicht wird immer breiter. Nicht wegen irgendwelcher Schauspielgrößen, die hier oder dort waren, nein, faszinierend finde ich, dass hier ein Badehaus steht, welches in über 150 Jahren nicht verändert worden ist.  Unangetastet. Es ist authentisch. 

Natürlich ist es beeindruckend vor dem Haus zu stehen, in dem Napoleon in Görlitz übernachtet hat. Aber das Haus sieht weder von außen, noch von innen so aus wie damals. Es bietet einen abstrakten Rückblick. Von heute blickt man auf damals, aber man spürt es weniger. 

Die Atmosphäre im Freisebad ist anders. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie hier die Menschen 1887 gebadet und geduscht haben.  Wie sich die Damen im geflüsterten Ton auf der Empore auf den unbequemen Holzbänken unterhielten. Wie Kinder durch die engen Gänge tobten. Früher waren Badeanstalten dazu da, um die tägliche Körperhygiene durchzuführen, weil die Wohnhäuser keine Badezimmer hatten. Unvorstellbar im Jahr 2021, aber genau dieses Undenkbare spürt man im Innern des Freisebads. 

„Man könnte hier so viel machen, aber der Denkmalschutz macht es eben kompliziert“, erklärt Katja Müller, Projektleiterin für Wirtschaftsförderung. Die strengen Auflagen machen eine Sanierung extrem teuer. Diverse Interessenten sind bereits abgesprungen. Einerseits stehen das Gebäude, Grundriss und Räumlichkeiten unter Denkmalschutz. Andererseits stehen da potentielle Investoren, denen diese Auflagen die Hände binden. In diesem Spannungsfeld altert die Badeinstitution langsam vor sich hin zum „Lost Place“. 

Lost- sind eigentlich real places, da sie die Vergangenheit nicht ausstellen, sie sind die Vergangenheit. Die Zeit ist mit ihnen stehen geblieben. Sie erinnern sich, die Uhr der großen Schwimmhalle. 5 nach Zwölf hat man 1996 diesem legendären Bad endgültig den Stecker gezogen. 

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