Sommer 2000. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder steht in der Keramik Scheune von Susanne Arlet und graviert schwungvoll seinen Namen in eine „ledertrockene“ Tonvase. Fotografen, Kameraleute und Pressemeute quetschen sich in den kleinen Laden. Von Spiegel, Stern bis hin zum MDR. Ausnahmezustand auf dem sonst so beschaulichen Erlichthof.
Sommer 2021. Tobias Rieger (mit keinerlei Ambitionen auf das Kanzleramt) „henkelt“ unter Anleitung von eben jener Susanne seine erste - und vermutlich auch letzte- Teetasse. Von weiterer Journaille fehlt jede Spur. Zum einen, weil ich komplett talentfrei „henkele“ und zum anderen vermutlich, weil ich weder Brioni-Anzüge trage, noch Zigarre rauche. Andere Erklärungen für die Abwesenheit der internationalen Weltpresse wären inakzeptabel.
Susanne vertont rund 2 Tonnen Material pro Jahr, alles in Handarbeit, alles alleine und verkauft es im kleinen Lädchen nebenan. In sich versunken und zufrieden sieht sie aus, wie sie hinter ihrem Drehteller sitzt und gefühlvoll eine neue Vase zieht. Nur vom Zusehen entschleunigt der Kopf und mein Puls schaltet mehrere Schläge runter. Es wirkt fast wie Meditation.
Direkt neben den Schrotholzhäusern von Keramik-Scheune, Weberei und Nähstübchen schimmert der Erlichthof-Teich. Still und ruhig liegt der See, so das geflügelte Wort. An diesem Teich ist aber richtig Alarm. Es müssen Hunderte Frösche sein, Libellen tanzen über das Wasser und Wasserflöhe flitzen über die Oberfläche. „Exakt 400 Fische sind im See“ erklärt Fischwirt Karsten. Typ Crocodile Dundee, nur ohne das Buschmesser. Einmal im Jahr wird gefischt. Nach dem Badewannenprinzip. „Stöpsel ziehen, Wasser ablassen, danach kann man den Fisch quasi mit Hand aufheben“ lacht der promovierte Selbstversorger.
Wie eine Blaublütige sieht sie im ersten Augenblick nicht aus. Iris Jagiela, die Betreiberin des Scheunencafés. Wir sitzen draußen im kühlen Schatten und essen ihre sensationelle, kalte Gurkensuppe zu selbstgebackenem Brot. Erst auf den zweiten Blick fällt mir das kleine goldene Versace-Logo ihres Brillengestells auf. Iris winkt lachend ab. „Die Brille war im Sonderangebot und ich bin angeheirateter verarmter polnischer Adel“ betont sie und verschwindet wieder hinter dem Tresen. Ich mag sie sofort. Es gibt Menschen, denen ist das Gastgeben in die Wiege gelegt. Iris ist so eine. Eine, die sich traut, eine die was macht. So wie alle Gewerke des Hofs. Nicht jammern, einfach machen.
Der Name Schröder zog die Massen, ein Rieger zieht Qualität. Rietschens Bürgermeister Ralf Brehmer und die Mitbegründerin des Erlichthofes Marion Girth geben sich die Ehre und machen unsere Runde größer. Vom unverbindlichen Small Talk zum Einstieg geht es nahtlos in großes Gelächter. „Vor Jahren sei mal eine Delegation von der Universität Tokio da gewesen. Die waren so fasziniert, der Souvenirshop war danach restlos ausverkauft.“ freuen sich die Beiden. Ich versuche mir vorzustellen wie unsere japanischen Freunde an der Aussprache „Ellickthofff“ verzweifelt sein müssen, und wie sich die Wolfs-T-Shirts im Ballungsraum Tokio wohl machen.
Auf den Wolf gekommen ist man am Erlichthof schon lange seit dieser von Polen nach Deutschland „rüber gemacht“ hat. Eine Ost-West Migration in ganz neuem Kontext. Rund 25 Rudel leben inzwischen in der Region Sachsen. Das Märchen vom bösen Wolf berge eine Menge Vorurteile und Unwissen erklären mir Jonas und Martha, die heute das kleine Wolfsmuseum betreuen. Draußen lärmt bereits eine wartende Schulklasse, die eine der angebotenen Führungen machen will. Ich schaue dem ausgestopften Wolf ins Auge, die Rufe eines Rudels schnauben durch den Raum und versuche mir Aussehen und Form eines Fußabdrucks einzuprägen. „Der Wolf läuft meist im geschnürten Trab“ lerne ich im Rausgehen von Martha und solltest du jemals einem begegnen: „Einfach freuen und nichts tun“ ergänzt Jonas. „Wölfe attackieren keine Menschen.“
Inzwischen sind über 4 Stunden auf Erlichthof vergangen, und wir haben noch immer nicht alles gesehen. Lysann Lorenscheit, Leiterin Siedlungsmanagement Erlichthof die uns den ganzen Tage liebevoll begleitet hat, begleitet uns zum Auto auf dem Parkplatz. Eine warmherzige Leiterin, der das Projekt Erlichthof ehrlich am Herzen liegt. Bewusst hat sich die Mutter zweier Jungs gegen eine mögliche Karriere bei DB und Siemens entschieden. „Sie wolle hier etwas bewegen“ sagt sie und umarmt uns herzlich zum Abschied. Ob Lysann Gerhard Schröder zum Abschied auch umarmt hätte, wäre sie 2000 schon im Job gewesen? Ich glaube es nicht. Brioni passt nach Berlin, aber nicht nach Rietschen.