Der 100-Jährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Ein Bestseller von Jonas Jonasson. Es ist die skurrile Geschichte eines 99-jährigen Pflegeheimbewohners, der einen Tag vor seinem 100. Geburtstag stiften geht.
Mit diesem Gedanken steige ich vor der Einrichtung für Betreutes Wohnen in Kollm aus dem Auto und betrete den top gepflegten Garten – und Sonnenterrassenbereich der idyllischen Anlage und frage ich mich wie weit ein 100-Jähriger hier wohl kommen würde?
Nicht weit - sagt Simon Petrick, Teamleiter und Pflegefachkraft zur Begrüßung, als hätte er meinen Gedanken gelesen. Zum einen, weil im Ort jeder jeden kennt. Und zweitens, weil es einfach sehr angenehm und ungezwungen zugeht im neuesten Haus des Familienunternehmens Kunze.
Als wäre es für uns inszeniert, kommt just in diesem Moment ein Ehepaar um die pflegebedürftige Mutter für ein paar Tage im Haus unterzubringen. Fr. Koller (Name geändert) geht stramm auf die 90 zu, aber der klare Blick und das verschmitzte Lächeln täuschen über die Gebrechlichkeit samt Rollator hinweg.
„Nur junge Männer!“ schmunzelt die Dame mit Blick auf uns, während sie am Rollator an uns vorüber schlurft. „Na, dann is ja alles gut hier.“ – schiebt sie noch trocken hinterher und verschwindet samt Entourage im Haus. Ich muss mir das Lachen verkneifen. Der Humor erinnert mich an meine rheinische Großmutter.
Simon zuckt lächelnd mit den Achseln. Er hat diese natürliche Gabe, einem sofort sympathisch zu sein. Zugewandt und offen redet er mit uns, beantwortet nebenbei Fragen der Kollegen, telefoniert, hat ein freundliches Wort für eine ältere Klientin, schenkt Kaffee ein, unterhält sich mit dem Gärtnerteam, eilt zwischendurch kurz ins Zimmer einer weiteren Klientin und wirkt dennoch in keinerlei Weise gestresst.
14 Jahre Berufserfahrung und 4 ältere Schwestern, die See muss vermutlich schon sehr bewegt sein, um diesen Kerl mit dem Kreuz einer Eiche-Rustikal Schrankwand, ins Wanken zu bringen.
Ohne Empathie gehe der Job des Pflegers nicht. Man könne den Beruf der Pflegefachkraft niemandem überstülpen, aber egal zu welcher Jahreszeit, man habe immer einen sicheren Job im Pflegebereich. In 14 Jahren Pflege habe er bereits in den verschiedensten Einrichtungen der Region gearbeitet erzählt er uns. Wann er dafür das letzte Mal eine Bewerbung geschrieben habe, wisse er nicht mehr. Anrufen, vorbeikommen, unterschreiben, anfangen. Das sei der Vierklang seiner Vita.
Mein Blick schweift zum nebenan liegenden Quitzdorfer Stausee. Die Sonne glitzert auf dem Wasser, die leichte Brise wiegt sanft den Schilf, Bötchen dümpeln am Steg. Das könnte überall auf der Welt sein, aber es ist direkt ums Eck. Der 100-Jährige der aus dem Fenster stieg und verschwand, landet am Ende unter abenteuerlichsten Bedingungen auf Bali. Die älteste Bewohnerin im Haus von Kollm ist 101 Jahre alt. Sie wohnt im EG. Sie müsste nicht mal aus dem Fenster steigen, sie könnte einfach die Türe öffnen, und zu Fuß zum See rüber gehen. Jeden Tag. Manchmal liegt das Glück ganz in der Nähe.