Wir stehen auf dem Aussichtsturm Weißwasser Oberlausitz, direkt hinter der Stadtgrenze und blicken auf eine Mondlandschaft. Rechts der aktive Tagebau, links die „renaturierte“ Zone, in der Ferne steht die weiße Rauchfahne des Kohlekraftwerks Boxdorf in der Luft. Das also ist der Preis für unseren Energiehunger. Man versteht, warum Naturschützer auf die Barrikaden gehen. Es ist beschämend, was der Mensch hier mit der Natur gemacht hat. Das ist die eine Seite der Medaille.
Die andere Seite sieht man, wenn man sich auf dem Turm um 180 Grad dreht und auf Weißwasser blickt. Rund 3.000 Jobs der 16.000 Einwohner zählenden Stadt hängen direkt an der Kohle. An den Jobs hängen Familien und deren Existenz. Obendrein gilt der Landkreis ohnehin als der Einkommensschwächste von ganz Deutschland. Es braucht jeden Job.
Der Kohleausstieg ist vom Bund beschlossene Sache. Dafür werden rund 40 Milliarden € per Strukturstärkungsgesetz zur Verfügung gestellt. Und hier beginnt das Problem. Der Kampf um die Fleischtöpfe führt dazu, dass sich die Kommunen und Gemeinden untereinander gegenseitig die Mittel abgraben. „Das meiste Geld fließt nach Görlitz“ hadert Torsten Pötzsch mit der Verteilung der Gelder. Der Oberbürgermeister strahlt eine sehr angenehme Ruhe und Zuversicht aus. Man merkt schnell, dieser Mann hat einiges erlebt, den haut so schnell nichts um. „Alle sollen partizipieren, aber die Stadt Weißwasser hat mit am meisten geblutet.“ Es braucht einen Druckverband, kein Trostpflaster um die Wunde zu schließen.
Er nimmt uns mit in die Stadt und erklärt das zersiedelte Stadtbild. „Weißwasser war vor der Wende ein florierender Industriestandort. Anfang des 20. Jahrhunderts größter Glasproduzent der Welt. 11 Glashütten standen hier. Dann kam die Wende. „Die jungen intelligenten Frauen sind gegangen, die dummen Männer geblieben“ sagt er überspitzt und lacht. Die wilde Lockenmähne tanzt um sein Gesicht.
Aus 35.000 Einwohnern wurden im Laufe der Jahrzehnte die heutigen 16.000. Leerstehende Gebäude wurden abgerissen oder vergammelten im Stadtbild. Die Glashütten wurden teilweise von der Konkurrenz übernommen oder kaputt gewirtschaftet. Das war der schleichende Niedergang nach der Wende und jetzt kommt mit dem Kohleausstieg der nächste Hammer für eine Stadt, die ohnehin schon am Boden liegt. Man könnte sich jetzt in sein Schicksal ergeben, und sagen: Gut, der Letzte macht das Licht aus. Nicht aber mit Torsten Pötzsch. Weißwasser hat einen Oberbürgermeister, der um jeden Euro Finanzierung, jeden Einwohner und jeden Job persönlich kämpft.
Wir bekommen eine exklusive VIP Tour mit OB Pötzsch durch Weißwasser. Wir betreten die relativ neue Eishalle der Lausitzer Füchse, früher 25-maliger DDR Meister. „Haben wir sogar billiger gebaut, als geplant“ merkt er bescheiden an. Vom Auto aus grüßt er während der Fahrt nach links und nach rechts. Er scheint jeden zu kennen. „Diese Nacht konnte ich wegen der Hitze nicht schlafen, dann habe ich auf Social Media Fragen der BügerInnen beantwortet. Übrigens, gibt es auch die OB-Gerüchteküche, da stehe ich den Menschen persönlich Rede und Antwort“ – sogar das ZDF hat schon berichtet. Schlagzeile hat er aber mit einer anderen Aussage gemacht: „Ich besorge jedem, der nach Weißwasser zieht, einen Job!“ Im Supermarkt habe ihn dann mal eine Dame angesprochen, sie sei Politologin. Was er denn für sie tun könne? Pötzsch zieht ein paar Strippen, telefoniert mit alten Freunden. Die junge Dame sitzt heute für den Landkreis im Bundestag. Es gibt viele Menschen, die auffallen wollen um jeden Preis. Als wäre Aufmerksamkeit eine Währung. Torsten scheint dagegen immun. Man kauft es ihm ab, wenn er sagt: „Ich habe zwei kleine Kinder, für die mache ich das. Ich möchte nicht von ihnen später zu hören bekommen: Warum hast du nichts gegen den Verfall getan?!“
Dieser OB hat eine Mission. Er kämpft für Schulen, Kindergärten sowie Aus-und Weiterbildungszentren die den Standort Weißwasser wieder attraktiv machen. Neben Arbeitsplätzen braucht es diese „weichen“ Faktoren, die eine Stadt lebenswert machen. Aus Alt mach Neu, ohne Alt komplett unter den Teppich zu kehren. Das ehemalige Telux Fabrikgelände ist ein Paradebeispiel dafür wie Pötzsch sich das in Zukunft vorstellt. In den alten Fabrikmauern siedeln sich kreative sozio-kulturelle Geschäftsmodelle an. Kristine, Tunnel im Ohr und Konterfei der Oma auf den Oberschenkel tätowiert ist Mediendesignerin. Typ Berliner Hippsterin, kommt aber aus Zwickau und verwirklicht sich hier mit ihrem Mann René. Der ist Graffiti-Künstler und macht nebenbei in Holz, heraus kommt dabei das Label: „It-Wood-be-nice“.
Nebenan liegt die Bar/Café Hafenstube im Industrie-Chic mit Räumen für Konzerte und Veranstaltungen. Pötzsch zeigt uns die Bäder: „Das sind Designerwaschbecken, B-Ware, sieht man aber keinen Fehler dran, hat ein uns ein befreundeter Sanitärmann geschenkt.“ In einer anderen Halle werkelt ein Holzkünstler. „Der hat sein Haus im Umland verkauft und lebt und arbeitet jetzt hier auf dem Gelände mit seiner Familie.“ Wir rollen über das weitläufige Areal. „Da vorne soll noch ein Pool hin und hier möchte ich eine Outdoor-Bühne stehen sehen“. Torsten schwärmt. Und man kann es ihm nicht verdenken, das Potential dieser alten Fabrikanlagen ist riesig. Aus Alt mach Neu. Eine andere Chance hat Weißwasser vermutlich auch gar nicht, aber mit Torsten Pötzsch einen Mann im Rathaus, der sich beharrlich für seine Heimat einsetzt.