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Tag 12: Wakeboarden Halbendorfer See

 2021 06 20 Tag12 Wake Beach Ebietrag

Der Strukturwandel bietet immer auch eine Chance. Die ehemalige Kohleabbaugrube Trebendorfer Felder von 1949 ist heute ein Wakeboard- & Badeparadies. Es gibt nicht viele solcher Anlagen in Deutschland. Die Kennzeichen der PKW auf dem Parkplatz zeigen, hier kommen viele aus dem Umland. Berlin, Dresden, Cottbus. 

Wasserskifahren war Generation Brigitte Bardot. Location St. Tropez.  Wakeboarden ist Generation Z. Location: Baugrube. Auf der zum Wasser ausgerichteten Restaurantterrasse lümmeln sich schwer tätowierte Mittdreißiger mit dicken Sonnenbrillen auf den Chill-out Sofas. Junge Dorfschönheiten nuckeln gelangweilt an ihren Drinks und bewegen sich nur zum Wenden beim Bräunen. 

Die gesamte Terrasse ist zum See hin ausgerichtet. Der Startplatz der Schleppanlage liegt direkt davor. Es ist eine Showbühne. Die Anlage surrt, es klatscht, ein junger Wakeboarder wirbelt gekonnt durch die Luft, landet lässig, verteilt ordentlich „Spray“ und fährt weiter. Wohlwissend, dass alle Augen der Terrasse seinen „Move“ mitbekommen haben. Die bewunderten „Ohhhs! Ahhhhs! Wows!“ von der Terrasse kommen natürlich nicht von Cool & the Gang auf den Chill-out Sofas. Nur Anfänger und Touristen zeigen sich beeindruckt. Der Rest vom Fest bewahrt Pokerface und verzieht keine Miene. 

Ich stapfe zum Wakeboard-Verleih und frage nach dem Chef. Andre kommt, mustert mich einmal kurz von oben bis unten und begrüßt mich mit den Worten: „ Anfängerkurs gebucht?“ Er beißt in sein Fischbrötchen. Die Soße läuft seinen Vollbart runter. Zum 1. Mal ist mir ein Oberlausitzer nicht auf Anhieb sympathisch. Ich spüre eine leichte Anspannung in mir. Doch der Typ ist Schwergewichtsklasse. „Nein, ich will es einfach nur mal probieren. Mehr nicht.“ antworte ich. 

Er scheint nicht überzeugt: „Naja, ich will ja, dass du ein Erfolgserlebnis hast. Wie du meinst. Gib ihm mal Helm, Weste und Easy-up Wakeboard“ sagt Andre zu einer Mitarbeitenden und verschwindet in der Masse. Die junge Dame zeigt mir die Ausrüstung und brüllt über das gesamte Sonnendeck zu Carlos rüber. Carlos, ist der „Hebler“ im Starthäuschen. Also, derjenige, der Griff samt Leine einklickt bzw. ein hebelt und damit die Fahrt auf dem Wasser startet. „Carlos, der hier ist Anfänger. Erklärst du es ihm?!“ 

Na, herzlichen Dank.  Jetzt weiß es die gesamte Anlage. Hier kommt das Greenhorn. Sogar die gelangweilten Dorfschönheiten heben den Blick. Überhaupt scheint hier jeder jeden zu kennen. 

Eine Clique junger Wilder wartet grinsend auf meinen Start. Ich frage Carlos, der vom Alter her locker mein Sohn sein könnte: „Was muss ich beachten?“ „Den Griff eng und kompakt am Körper, wenn es dich rauszieht. Dann Arme strecken und locker auf dem Board stehen bleiben.“ Ich beobachte, wie meine Leine sich einrastet, auf Zug geht und mich von der Startbank rauskatapultiert. Ich fahre ein paar Meter, ein paar der jungen Wilden pfeifen bereits anerkennend, dann zerlegt es mich. 

Aber das Eis zwischen der beobachtenden Terrasse und mir ist gebrochen. „Hey, beim nächsten Mal nicht so steif in den Beinen bleiben, dann hast du es“ gibt mir einer der jungen Wilden den wohlmeinenden Tipp. Start Nr. 2. „Kommt!“ brüllt Hebler Carlos, meine Leine geht auf Zug, Gewicht nach hinten, schnell aufrichten, Arme strecken, locker in den Beinen. Ich gleite übers Wasser. Aufmunternde Rufe der jungen Wilden. Ich stehe und fahre. Ich bin total fasziniert, wie schnell ich übers Wasser düse. Kurve 1. Ich stehe noch immer. Kurve 2. Ich bleibe immer noch stehen. Kurve 3 & 4 ist eine Art Doppelkurve. Ich sehe es und bereite mich vor, man wird aufgrund des engen Radius durch Kurve 4 mehr geschleudert, als gezogen. Es ist wie eine Zwille, das Seil geht auf Maximal-Spannung und entlädt sich explosiv.  Ich beobachte Läufer und Zugseil über mir, der Speed durch die Kurve ist ein einziger Rausch. Ich stehe noch immer. Kurve Nr. 5 vor der Terrasse ist dann nur noch Formsache.  Nach 4 Runden brennen meine Hände. Es ist anstrengender als ich dachte. 

Bis zu 10 Wakeboarder hängen auf diesem Wasser-Karree am Schleppseil. Die Anlage kann bis 60 km/h schnell fahren, was eine irre Geschwindigkeit auf dem Wasser ist. An normalen Tagen läuft sie mit 30 km/h, das kann beim Aufprall auch schon schmerzen. Verschiedene Rails und Kicker sind auf der Bahn verteilt, für diejenigen die sich trauen oder wollen.  Nach 2 Stunden mit diversen Runden auf der Bahn bin ich ausgepowert. 

Zufrieden gebe ich mein Leihequipment ab und setze mich zu Andre,  der an einem der Tische ebenfalls Pause macht. Er sieht auch geschafft aus. Die Sommertage sind Großkampftage auf der Anlage. „Und wie lief es?“ fragt er mich. „War ganz ok“ stapele ich tief. Ich habe meinen Frieden mit ihm gemacht. „Ich habe früher Scheinwerfer verkauft“ offenbart er mir. „Nebenbei habe ich hier am See eine kleine Bar betrieben, die Idee mit der Wakeboard-Anlage gehabt, Investoren gesucht und dann einfach gemacht. Meinen ersten Kurs habe ich gegeben, da konnte ich Kurve 4 noch nicht mal selber fahren.“ 

Unsere erste Begegnung mag mir etwas schräg eingefahren sein, aber jetzt habe ich großen Respekt vor seinem Lebenswerk. Wieder so ein Macher. „Der Tourismus ist im Zuge des Strukturwandels fast unsere einzige Chance in der Region“ ist er sich sicher und erzählt mir ungefragt von seinen weiteren Plänen. Menschen mit Visionen, die sie dann auch umsetzen, haben eine magische Energie.  Unternehmertypen sind ein bisschen wie Kurve 4. Man weiß es wird nicht leicht, aber mit Vertrauen, Mut, Können und etwas Glück kann alles gelingen.  

2021 06 20 Tag12 Wake Beach Titel

Tag 11: ENO

2021 06 18 ENO Titel und Beitrag

Die Entwicklungsgesellschaft Niederschlesische Oberlausitz, kurz ENO. Selten hat eine Abkürzung mehr Berechtigung gehabt. Ich laufe auf ein, für Görlitzer Verhältnisse, relativ unscheinbares Gebäude zu.  Ein typisches Bürogebäude, denke ich bei mir und trete in den großzügigen Eingangsbereich mit den entsprechenden Erwartungen, also keiner mehr. 

Was dann passiert, nenne ich das „Görlitzer Phänomen“. Durch zwei Glastüren trete ich wie in eine Kathedrale, nein, in eine altehrwürdige Bibliothek. Es fehlen nur die Bücher. Durch die hohe Glaskuppel fällt Licht. Es ist einfach nur beeindruckend. Statt schmucklosem Büro stehe ich in dem ehemaligen Gebäude der Sparkasse aus dem 19. Jahrhundert. Der kleine angrenzende Besprechungsraum ist der ehemalige Tresor. Ich denke mitleidig an mein schmuckloses, graues Büro in einem Stuttgarter Industriegebiet über dem Billig Discounter mit Blick auf einen schmierigen Beate Uhse Laden. Das hier ist absolute Champions League, ein Sahne-Objekt. 

Natürlich steht auch hier alles unter Denkmalschutz, alles andere wäre für Görlitz ja quasi nicht mehr standesgemäß. An vielen kleinen Büroinseln sitzen die ENO-KollegInnen, wie in einem gigantischen Open Space Office.  Ob es die Imposanz des mondänen Raumes ist?  Es herrscht große Stille, man wagt kaum zu atmen. Ich flüstere ENO –Redakteur Chris fragend zu: „Sag mal, siehst du das hier überhaupt noch? Wie geil ist das als Büro, bitte schön?!“ Mein Kollege Chris ist sicher ein Mann des Wortes, aber seine Antwort ist kurz, knapp und sagt alles über die selbstbewusste Eigenwahrnehmung einer ganzen Region: „Nu!“ (Anmerkung: Nu = Ja auf „Oberlausitzisch“)

 Mein Blick schweift über die Belegschaft, überdurchschnittlich viele junge KollegInnen. Ich würde mich hier auch wohlfühlen und werde im gleichen Moment fast von Luna, dem Hund des Chefs umgerannt.  „Luna ist ein bisschen Bluna im Kopf, wir haben sie von einer Züchterin, nachdem drei Vermittlungsversuche schon gescheitert waren.“  entschuldigt sich Sven Mimus, Geschäftsführer der ENO und bittet mich in sein Büro. 

Ich schaue in sein jung gebliebenes Gesicht und  rechne zurück. Mit gerade einmal 25 Jahren hat er 2005 als Geschäftsführer bei der ENO angefangen. Trotz seiner jugendlichen Ausstrahlung schwingt Autorität mit. „Eigentlich wollte ich nach ein paar Jahren was anderes machen, so war mein Plan“ erzählt er offen und unprätentiös. „Aber wissen Sie was? Ich habe ein Haus, zwei Kinder mit der tollsten Frau der Welt, einen Hund und ich bin total zufrieden mit meinem Job“.  Eigentlich hätte ich an dieser Stelle, meinen Block zuklappen und das Gespräch beenden können. Damit ist letztlich alles gesagt. 

„Das Wichtigste ist die Gesundheit und die Familie. Wenn da was im Argen liegt, kann ich auf der Arbeit auch nicht funktionieren.“ setzt er mich weiter schachmatt. „Wir haben hier ein Riesenpotential im Ballungsraum mit Polen und Tschechien. Wir haben derzeit so viel finanzielle Unterstützung wie nie zuvor, auch aus Brüssel, um uns auf lange Sicht davon unabhängig zu machen.“ Ich höre nickend zu, würde ich auch alles so unterschreiben. 

Uneitel, unaufgeregt und frisch von der Leber weg erzählt Sven Mimus über sich, den Job, seinen Alltag. Ein Chef, wie ihn man sich wünscht. Ob ich das alte Auto-Kennzeichen NOL schon mal gesehen hätte, fragt er mich. „NOL, kurz für Natur ohne Leute“ beantwortet er sich seine rhetorische Frage selber. Das ist es, was er den ewig Gestrigen immer sage. Man sollte jetzt nach vorne blicken, jetzt die Chance nutzen. Die Firma Blaupunkt sei eine Blaupause für den Strukturwandel. Früher haben die Autoradios gebaut, heute bauen sie E-Ladesäulen und florieren wieder. 

Die Region ist dabei sich neu zu erfinden, und das muss sie auch. Die ENO, als Bindeglied zwischen Unternehmen, Finanzierung und Politik hat diese Dynamik längst begriffen. Rund 10 neue KollegInnen haben erst kürzlich ihren neuen Job angetreten. Einziges Manko: im historischen Bankgebäude ist kein Tisch mehr frei. Die neuen KollegInnen sitzen woanders. Man kann auch im „Unbezahlbarland“ nicht alles haben. 

Tag 10: Fraunhofer Hydrogen Lab Görlitz

2021 06 17 Siemens Beitrag

Schwere abgedunkelte Limousinen deutscher Premiumhersteller rollen langsam über das Kopfsteinpflaster der Görlitzer Innenstadt. Am Obermarkt stehen diskret im Schatten der Arkaden Personenschützer in Zivil. Sie mustern jeden Passanten aufmerksam. Ich schlendere der Limousinen-Armada entgegen, und spüre die abschätzenden Blicke des Personenschutzes auf mir liegen. Sie wissen wer in den Fonds der Limousinen sitzt.  Ich weiß es auch, und gehe weiter auf die sich im Schritttempo nähernde Fahrzeugkolonne zu.

Rückblick. Es ist brüllend heiß auf dem Siemens Innovationscampus in Görlitz. Ein Pulk aus Journalisten von Print bis TV drückt sich in das bisschen Schatten des Turbinengebäudes von Siemens Energy. Dann geht alles plötzlich ganz schnell. Mehrere Limousinen fahren vor. Türen gehen auf, Personenschützer und Assistenten steigen aus. Mittendrin, die Hauptpersonen. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer. 

Es mag ein langer Weg aus Berlin und Dresden sein, aber noch weiter war der Weg zu diesem Termin. Der Bundeswirtschaftsminister und Ministerpräsident haben einen Förderscheck in Höhe von 42 Millionen Euro im Gepäck. Es geht um das Projekt „Fraunhofer Hydrogen Lab Görlitz“ zur Errichtung eines Wasserstofflabors. Ein wichtiges Signal für den Standort Görlitz und die Region. 

Obwohl es das Protokoll nicht vorsieht, greift sich Peter Altmaier nach der Begrüßung unvermittelt das Mikrofon und lobt: „Ich kenne keinen anderen Ministerpräsidenten, der sich so sehr für sein Bundesland ins Zeug legt.“ Der Bund stellt 8 Milliarden Euro für den Strukturwandel zur Verfügung, davon gehen ca. 3 Milliarden € in die neuen Bundesländer. Einen großen Teil vom Kuchen hat die Region schon ab bekommen aber es braucht auch Einsatz, um an diesem Geldtopf zu partizipieren. Von alleine kommt das Fördergeld nicht. Es ist ein langer Prozess, viel Überzeugungsarbeit muss da geleistet werden. 

„Es sei leicht zu sagen: so jetzt erfinden sie mal die Zukunft neu“, ergänzt Michael Kretschmer den Bundeswirtschaftsminister. „Es brauche eben auch Anschub von Außen, um den Wandel überhaupt nachhaltig in Bewegung zu bringen.“ Die Investition in diesen Innovationscampus muss als positives Signal verstanden werden. Berlin hat die Region definitiv auf dem Radar, sonst wäre der Bundeswirtschaftsminister Altmaier nicht extra angereist.

In der abschließenden Presserunde, erkläre ich kurz meinen Auftrag für das #unbezahlbarland und möchte dann von Peter Altmaier wissen, wie er die Niederschlesische Oberlausitz und ihre Menschen wahr nehme? „Er sehe Parallelen zu seiner Heimat Saarland, auch eine Region die den Strukturwandel erlebe, aber gestärkt daraus hervorgehen könne.“ 

Knapp 1 Stunde später schlendere ich im Zentrum von Görlitz wie eingangs erwähnt auf die mir entgegenkommende Wagenkolonne zu. Ob sie meine Frage nachhaltig beeindruckt hat, wage ich zu bezweifeln. Aber das mit dem Stuttgarter Blogger scheint hängengeblieben zu sein. Im Vorbeifahren winken mir nacheinander Peter Altmaier und Michael Kretschmer freundlich zu. Und sollten die Herren diesen Beitrag hier lesen: Setzen Sie sich bitte weiter für das #unbezahlbarland ein. Es ist es wert. 

Tag 9:Erlichthofsiedlung Rietschen

2021 06 16 Tag 09 Erlichthof Beitrag 
Sommer 2000. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder steht in der Keramik Scheune von Susanne Arlet und graviert schwungvoll seinen Namen in eine „ledertrockene“ Tonvase. Fotografen, Kameraleute und Pressemeute quetschen sich in den kleinen Laden. Von Spiegel, Stern bis hin zum MDR. Ausnahmezustand auf dem sonst so beschaulichen Erlichthof. 

Sommer 2021. Tobias Rieger (mit keinerlei Ambitionen auf das Kanzleramt) „henkelt“ unter Anleitung von eben jener Susanne seine erste - und vermutlich auch letzte- Teetasse. Von weiterer Journaille fehlt jede Spur. Zum einen, weil ich komplett talentfrei „henkele“ und zum anderen vermutlich, weil ich weder Brioni-Anzüge trage, noch Zigarre rauche. Andere Erklärungen für die Abwesenheit der internationalen Weltpresse wären inakzeptabel. 

Susanne vertont rund 2 Tonnen Material pro Jahr, alles in Handarbeit, alles alleine und verkauft es im kleinen Lädchen nebenan. In sich versunken und zufrieden sieht sie aus, wie sie hinter ihrem Drehteller sitzt und gefühlvoll eine neue Vase zieht. Nur vom Zusehen entschleunigt der Kopf und mein Puls schaltet mehrere Schläge runter. Es wirkt fast wie Meditation. 

Direkt neben den Schrotholzhäusern von Keramik-Scheune, Weberei und Nähstübchen schimmert der Erlichthof-Teich. Still und ruhig liegt der See, so das geflügelte Wort. An diesem Teich ist aber richtig Alarm. Es müssen Hunderte Frösche sein, Libellen tanzen über das Wasser und Wasserflöhe flitzen über die Oberfläche.  „Exakt 400 Fische sind im See“ erklärt Fischwirt Karsten. Typ Crocodile Dundee, nur ohne das Buschmesser.  Einmal im Jahr wird gefischt. Nach dem Badewannenprinzip. „Stöpsel ziehen, Wasser ablassen, danach kann man den Fisch quasi mit Hand aufheben“ lacht der promovierte Selbstversorger. 

Wie eine Blaublütige sieht sie im ersten Augenblick nicht aus. Iris Jagiela, die Betreiberin des Scheunencafés. Wir sitzen draußen im kühlen Schatten und essen ihre sensationelle, kalte Gurkensuppe zu selbstgebackenem Brot. Erst auf den zweiten Blick fällt mir das kleine goldene Versace-Logo ihres Brillengestells auf. Iris winkt lachend ab. „Die Brille war im Sonderangebot und ich bin angeheirateter verarmter polnischer Adel“ betont sie und verschwindet wieder hinter dem Tresen. Ich mag sie sofort. Es gibt Menschen, denen ist das Gastgeben in die Wiege gelegt. Iris ist so eine.  Eine, die sich traut, eine die was macht. So wie alle Gewerke des Hofs.  Nicht jammern, einfach machen. 

Der Name Schröder zog die Massen, ein Rieger zieht Qualität. Rietschens Bürgermeister Ralf Brehmer und die Mitbegründerin des Erlichthofes Marion Girth geben sich die Ehre und machen unsere Runde größer. Vom unverbindlichen Small Talk zum Einstieg geht es nahtlos in großes Gelächter. „Vor Jahren sei mal eine Delegation von der Universität Tokio da gewesen. Die waren so fasziniert, der Souvenirshop war danach restlos ausverkauft.“ freuen sich die Beiden. Ich versuche mir vorzustellen wie unsere japanischen Freunde an der Aussprache „Ellickthofff“ verzweifelt sein müssen, und wie sich die Wolfs-T-Shirts im Ballungsraum Tokio wohl machen. 

Auf den Wolf gekommen ist man am Erlichthof schon lange seit dieser von Polen nach Deutschland „rüber gemacht“ hat. Eine Ost-West Migration in ganz neuem Kontext. Rund 25 Rudel leben inzwischen in der Region Sachsen. Das Märchen vom bösen Wolf berge eine Menge Vorurteile und Unwissen erklären mir Jonas und Martha, die heute das kleine Wolfsmuseum betreuen. Draußen lärmt bereits eine wartende Schulklasse, die eine der angebotenen Führungen machen will. Ich schaue dem ausgestopften Wolf ins Auge, die Rufe eines Rudels schnauben durch den Raum und versuche mir Aussehen und Form eines Fußabdrucks einzuprägen. „Der Wolf läuft meist im geschnürten Trab“ lerne ich im Rausgehen von Martha und solltest du jemals einem begegnen: „Einfach freuen und nichts tun“ ergänzt Jonas. „Wölfe attackieren keine Menschen.“

Inzwischen sind über 4 Stunden auf Erlichthof vergangen, und wir haben noch immer nicht alles gesehen. Lysann Lorenscheit, Leiterin Siedlungsmanagement Erlichthof die uns den ganzen Tage liebevoll begleitet hat, begleitet uns zum Auto auf dem Parkplatz. Eine warmherzige Leiterin, der das Projekt Erlichthof ehrlich am Herzen liegt. Bewusst hat sich die Mutter zweier Jungs gegen eine mögliche Karriere bei DB und Siemens entschieden. „Sie wolle hier etwas bewegen“ sagt sie und umarmt uns herzlich zum Abschied. Ob Lysann Gerhard Schröder zum Abschied auch umarmt hätte, wäre sie 2000 schon im Job gewesen? Ich glaube es nicht. Brioni passt nach Berlin, aber nicht nach Rietschen. 

Tag 8: Lost Place – das Freisebad Görlitz

2021 06 15 Tag 08 Freisebad Beitragjpg
Es ist kurz nach Zwölf in der ehemaligen Wasserheil-und Badeanstalt von Walter Freise aus dem Jahr 1887. Die Uhr der großen Schwimmhalle ist stehen geblieben. Von den Wänden blättert der Putz, im Kassenhäuschen liegt ein schreibmaschinengeschriebener Zettel von 1965, in den alten Holzschränken der Umkleiden rosten Drahtkleiderbügel, Spinnweben hängen wie Fäden von den Decken. Das große Schwimmbecken liegt leer vor uns.

Geschlossen am 31. März 1996 und der Letzte hat gefühlt alles stehen und liegen gelassen und nur noch das Licht ausgemacht. Dieses altehrwürdige Bad hat definitiv schon bessere Zeiten gesehen,  und dennoch steht es würdevoll da. Alte Holztreppen knarzen, fahles Licht fällt durch die milchigen Scheiben, aber die Aura des Hauses ist überwältigend. Hier steht ein Stück Görlitzer Geschichte. 

Der Grundriss im Innern ist verwinkelt und geradezu eigensinnig. Enge, kurze Gänge führen in den Nebentrakt zum zweiten ehemaligen Becken. Hier wurden einige Szenen für das Grand Budapest Hotel gedreht. „Da wurde extra eine Badewanne hin gebaut“ sagt Kerstin Gosewisch, Filmbeauftragte der Stadt Görlitz und zeigt in eine Ecke.  Ich versuche mir Jude Law mit Badekappe in der Badewanne sitzend, vorzustellen. Für eine Szene von wenigen Sekunden, wurde genau einen Tag lang gedreht.

Kerstin Gosewisch erinnert sich gerne an jenen Winter 2013. Bill Murray beim Bratwurst essen auf dem Obermarkt, Owen Wilson, der spätabends sein Hotel nicht mehr findet, Regisseur Wes Anderson, der im Vorbeigehen mit der Kreditkarte ein ganzes Jugendstil Schlafzimmer kauft und in die USA verschiffen lässt. Die Görlitzer seien unaufgeregt und unaufdringlich mit den Stars umgegangen, das habe den Paparazzi-geschädigten Hollywood-Granden natürlich gefallen, schwärmt Kerstin. 

„Und im Café Flüsterbogen auf dem Untermarkt stand man jeden Abend Schulter an Schulter mit Jeff Goldblum & Co. Draußen war es bitterkalt, im kleinen Café konnte man die Luft in Scheiben schneiden, aber die Partys waren legendär“, raunt mir ENO-Redakteur Chris zu. Mein Grinsen im Gesicht wird immer breiter. Nicht wegen irgendwelcher Schauspielgrößen, die hier oder dort waren, nein, faszinierend finde ich, dass hier ein Badehaus steht, welches in über 150 Jahren nicht verändert worden ist.  Unangetastet. Es ist authentisch. 

Natürlich ist es beeindruckend vor dem Haus zu stehen, in dem Napoleon in Görlitz übernachtet hat. Aber das Haus sieht weder von außen, noch von innen so aus wie damals. Es bietet einen abstrakten Rückblick. Von heute blickt man auf damals, aber man spürt es weniger. 

Die Atmosphäre im Freisebad ist anders. Ich kann mir bildlich vorstellen, wie hier die Menschen 1887 gebadet und geduscht haben.  Wie sich die Damen im geflüsterten Ton auf der Empore auf den unbequemen Holzbänken unterhielten. Wie Kinder durch die engen Gänge tobten. Früher waren Badeanstalten dazu da, um die tägliche Körperhygiene durchzuführen, weil die Wohnhäuser keine Badezimmer hatten. Unvorstellbar im Jahr 2021, aber genau dieses Undenkbare spürt man im Innern des Freisebads. 

„Man könnte hier so viel machen, aber der Denkmalschutz macht es eben kompliziert“, erklärt Katja Müller, Projektleiterin für Wirtschaftsförderung. Die strengen Auflagen machen eine Sanierung extrem teuer. Diverse Interessenten sind bereits abgesprungen. Einerseits stehen das Gebäude, Grundriss und Räumlichkeiten unter Denkmalschutz. Andererseits stehen da potentielle Investoren, denen diese Auflagen die Hände binden. In diesem Spannungsfeld altert die Badeinstitution langsam vor sich hin zum „Lost Place“. 

Lost- sind eigentlich real places, da sie die Vergangenheit nicht ausstellen, sie sind die Vergangenheit. Die Zeit ist mit ihnen stehen geblieben. Sie erinnern sich, die Uhr der großen Schwimmhalle. 5 nach Zwölf hat man 1996 diesem legendären Bad endgültig den Stecker gezogen.